Gesundheitssenatorin auf Abwegen (2024)

Gesagt ist gesagt. „Wir sind in guten Gesprächen mit Berlin-Chemie. Die sind bereit, die Impfstoffproduktion aufzunehmen.“ Das sagte Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) am Donnerstag bei einer der unzähligen Corona-Debatten im Abgeordnetenhaus. Große Unruhe im Hohen Haus. Ein Impfstoff aus Berlin – ausgerechnet jetzt, da die zermürbte Republik darüber grübelt, ob Verkäufer (Biontech/Pfizer, Moderna, Astrazeneca) oder Käufer (Bundesregierung, EU) daran schuld sind, dass so wenig Impfstoff ankommt? Ein neuer Impfstoff als Silberstreif am düsteren Pandemie-Horizont? Ein Gamechanger made in Berlin? Wenn ja, wäre es alleine schon ein Coup, dass die Entwicklung so lange geheim geblieben ist.

Besonders aufmerksame Beobachter wollen jedoch noch in der unmittelbar danach entstandenen Unruhe im Parlament durch Michael Müllers Corona-Maske hindurch erkannt haben, wie dem Regierenden Bürgermeister die Züge entglitten. Und so dauerte es am Donnerstag nicht lange, bis klar wurde: Nein, Berlin-Chemie, ein traditionsreiches Pharmaunternehmen aus Adlershof, ist keineswegs kurz davor, ein Corona-Vakzin zu produzieren. Man sei dazu technologisch gar nicht in der Lage, hieß es am Abend. Zu dem Zeitpunkt war längst eine Sprachregelung des Senats durchgesickert: Von Produktion könne nicht die Rede sein, vielleicht von „Abfüllung“.

Berlin-Chemie: Keine Impfstoff-Produktion in der Hauptstadt

Von Elmar Schütze

Berlin

28.01.2021

Dennoch: Gesagt ist gesagt. Da sagt also eine exponierte Politikerin, ein Mitglied einer Landesregierung, öffentlich etwas offensichtlich Falsches. Dann stellt sich die einfache Frage: Wie konnte das passieren? Die Antwort darauf ist komplizierter.

Einpeitscherin im Senat

Dilek Kalayci ist seit Ende 2016 Gesundheitssenatorin. Die ersten drei Jahre im Amt ist sie quasi unter dem Radar geflogen. Das Gesundheitsressort wird in normalen Zeiten wenig beachtet. Doch die normalen Zeiten sind allerspätestens seit dem 2. März vorigen Jahres vorbei, als ein Rettungswagen „Patient Null“, den ersten nachgewiesenen Corona-Fall Berlins, ins Virchow-Klinikum der Charité in Wedding einlieferte. Seitdem ist Pandemie – und Dilek Kalayci fast jeden Tag in den Schlagzeilen.

Für viele Berliner ist Dilek Kalayci das Gesicht der Corona-Krise, diejenige, die stets noch strengere Verhaltensmaßnahmen einfordert. Die mit mit ihren Aufrufen, Appellen und Anweisungen nervt: sich ordentlich die Hände zu waschen, in die Armbeuge zu niesen, die Wohnung ausschließlich aus einem „triftigen Grund“ zu verlassen. Dabei wird oft vergessen, dass Kalayci im Senat eine Rolle spielt. Wer, wenn nicht die Ressortleiterin Gesundheit, muss die Einpeitscherin sein und mit düsteren Szenarien ihre quasi natürlichen Gegenspieler Klaus Lederer (Kultur/Linke) und Ramona Pop (Wirtschaft/Grüne) bremsen, die ihre Lockdown-geplagte Klientel im Blick haben?

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Hang zu Großprojekten

Aber was macht Dilek Kalayci tatsächlich in der Pandemie? Als Erstes fällt ihr Hang zu millionenschweren Prestigeprojekten auf. Im Frühjahr forcierte sie den Aufbau eines Corona-Ersatzkrankenhauses auf dem Messegelände. Dafür wurde Albrecht Broemme – als ehemaliger Feuerwehrchef ein unangefochtener Held der Stadt – aus dem Ruhestand geholt. Berlin sollte unbedingt das erste Bundesland mit so einem Krankenhaus sein. Also lieferte Broemme und stellte es binnen weniger Wochen hin.

Ähnlich lief es vor drei Monaten: Kaum sickerten Meldungen von ersten lieferbaren Impfstoffen durch, setzte die Senatorin alles daran, sechs Impfzentren einzurichten. Weil der neuartige Impfstoff so empfindlich ist, dass er für Hausarztpraxen ungeeignet ist, sollte er den Berlinern an diesen zentralen Orten quasi wie am Fließband verabreicht werden. Wieder wurde Broemme geholt – wieder gelang es. Das erste Impfzentrum, in der Arena in Treptow, öffnete am 27. Dezember. Mehr zwischen-den-Jahren geht nicht. Kein Wunder, dass anfangs nur wenige zum Impfen kamen. „Aber die Senatorin musste ja unbedingt bundesweit die Erste sein“, sagt CDU-Gesundheitspolitiker Tim-Christopher Zeelen.

Gesundheitssenatorin auf Abwegen (2)

Foto: dpa

Zur Person

Dilek Kalayci, geboren 1967 im türkischen Kelkit, lebt seit ihrem dritten Lebensjahr in Berlin. 1986 machte sie an der Otto-Hahn-Gesamtschule in Britz ihr Abitur – ihre Leistungskurse waren Physik und Mathematik. Nach ihrem Studium der Wirtschaftsmathematik an der TU arbeitete sie bei der Deutschen Kreditbank. Ihre politische Laufbahn begann sie 1996 im Schöneberger Bezirksparlament, ehe sie 2001 ins Abgeordnetenhaus gewählt wurde.
Sie war lange Zeit verheiratet mit Kenan Kolat, dem langjährigen Vorsitzenden des Berliner Landesverbandes der Türkischen Gemeinde in Deutschland. Nach der Scheidung heiratete sie 2019 den Gewerkschaftssekretär Hivzi Kalayci.

Doch was passierte? Das Krankenhaus in der Messe wird mangels Bedarf wohl nie an den Start gehen. Und das sei ein Glück, sagt nicht nur Zeelen, habe Kalayci doch bis heute kein Personalkonzept dafür entwickelt. Und von den sechs geplanten Impfzentren sind nur drei in Betrieb – und auch diese stehen weitgehend leer, weil wenig Impfstoff verfügbar ist.

Für beides kann Kalayci natürlich nichts. Doch vielen fehlt ein großer Plan. Die Senatorin verrenne sich oft. Anstatt das gesamte, überaus differenzierte Gesundheitssystem der Stadt auf das große Ziel der Pandemie-Bekämpfung einzuschwören, verzettelte sie sich in Streitereien mit den Kassenärzten über fehlendes Schutzmaterial. Das sagen politische Gegner, aber auch politische Partner. Im Senat ließ sie erst eine Verordnung passieren, die keine Maskenpflicht in Geschäften oder Bussen und Bahnen vorsah, um dann wenige Tage später öffentlichkeitswirksam eben eine solche Maskenpflicht zu fordern. Kleinere private Träger von Seniorenheimen werfen ihr vor, der Senat lasse sie beim Test- und Impfregime alleine. Zudem gehe Kalaycis Strategie, Berlin müsse unbedingt als erstes Bundesland alle Bewohner von Seniorenheimen durchimpfen, „auf Kosten des Personals“, moniert CDU-Mann Zeelen. Für dieses sei dann kein Impfstoff mehr da.

Fremdeln mit dem Ressort

Diese Mischung aus Fahrigkeit und Härte in Gesundheitsdingen mag damit zusammenhängen, dass Kalayci ursprünglich aus einer anderen Fachrichtung kommt. Nach ihrem Abitur erwarb sie das Diplom als Wirtschaftsmathematikerin an der Technischen Universität Berlin, anschließend fing sie bei der Deutschen Kreditbank an. Später kam die Politik hinzu, der Eintritt in die SPD. 2001 zog sie ins Abgeordnetenhaus ein. 2011 ernannte Klaus Wowereit die gebürtige Türkin zur Senatorin für Arbeit, Integration und Frauen. Das passte.

Kaum im Amt, machte Dilek Kolat, wie sie damals hieß, den Politologen und SoziologenFarhad Dilmaghani zu ihrem Staatssekretär. Dieser war zuvor im Bundesfinanzministerium Referent für Europafragen, unter Gerhard Schröder im Kanzleramt betreute er unter anderem den Deutschen Ethikrat. Kolat entließ Dilmaghani nach nur 16 Monaten ohne nachvollziehbare Begründung. Ähnlich erging es später dem ebenso hochangesehenen Fachmann Boris Velter. Der RBB schrieb: „Senatsintern und innerhalb der SPDwird seit Jahren kritisch darüber gesprochen, dass die Fluktuation der engsten Mitarbeiter der Senatorin hoch sei.“

Das hinderte sie nicht daran, im schon damals wütenden parteiinternen Machtkampf mitzumischen. Als 2014 ein Nachfolger für den amtsmüden Klaus Wowereit gesucht wurde, setzte sich Michael Müller durch – auch gegen Fraktionschef Raed Saleh. Schon damals galt Kalayci als Mitglied des „Team Saleh“. Böse Stimmen erkennen Ähnlichkeiten, wenn sie ihr fehlende „klare inhaltliche Richtung“ attestieren. Aus dieser Zeit stammt auch die Einschätzung, Kalayci sei „zweifellos eine gute Strategin, ändere ihre Meinungen aber schnell, wenn sie das persönlich weiterbringe“. Geschadet hat es ihr nicht. Als Müller Regierender Bürgermeister wurde, stieg sie zu einer seiner Stellvertreterinnen auf, zur Bürgermeisterin.

Rätselhafter Abgang

Gleichzeitig pflegte sie weiter ihre Verbindungen in die Berliner Wirtschaft, wo sie noch immer gern gesehener Gast ist. In der Zeit vor Corona konnte man auf Veranstaltungen der IHK den Eindruck gewinnen, dass viele dort ihren Ressortwechsel gar nicht mitbekommen hatten.

Das gehört zu den Rätseln der öffentlichen Person Dilek Kalayci. Ebenso, dass sie im vorigen Sommer – also mitten in der größten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Krise seit Jahrzehnten – mitteilte, bei der nächsten Wahl nicht mehr anzutreten. Gründe nannte sie nicht. Sie wird dann 54 Jahre alt sein.

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